Kapitel 4

Gideon schlüpfte in seinen Stresemann und zog die Manschetten seines Hemdes bis über den Bund der anthrazitfarbenen Ärmel hinaus, wie es die Mode vorschrieb. Während er seine seidene Krawatte glatt strich, wanderten seine Gedanken zurück in den Stall. Er konnte das Bild der duftigen Unterröcke und des gelben Stoffes einfach nicht vergessen. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass man eine Frau kopfüber in seiner Futtertonne fand.

Sie war ein wahrer Winzling mit dickem, dunkelbraunem Haar, das sich widerspenstig aus der Frisur zu lösen schien und mit braunen Augen, in denen das Leben funkelte … und ein leichter Anflug von Panik. Er gluckste belustigt. Zweifellos war sie eine der Kandidatinnen, die Bevin aus Fort Worth mitgebracht hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er an ihrer schockierten Reaktion ablesen können, dass sie in dem gleichen Moment, als sie ihn mit Hafer überschüttet hatte, erkannt hatte, wer er war. Er konnte es kaum erwarten, ihre Reaktion zu sehen, wenn er die Bewerberinnen in der Halle empfing.

Natürlich hoffte er, dass die anderen Kandidatinnen ein wenig erfahrener waren. Das Mädchen aus dem Stall hatte ausgesehen, als wäre sie selbst kaum dem Klassenzimmer entwachsen. Welche Erfahrungen konnte sie in ihrem kurzen Leben schon gesammelt haben? Isabella brauchte keine Spielgefährtin, sie brauchte eine Respektsperson, die sich schon mit vielen Kindern und den damit verbundenen Aufgaben auseinandergesetzt hatte. Eine kompetente, engagierte, gelassene Lehrerin. Das Mädchen in Gelb mochte aufgeweckt sein – und man würde sie ohne Zweifel hervorragend necken können – aber wenn er ihren Auftritt von vorhin beurteilen müsste, würde er Gelassenheit nicht zu ihren vorrangigen Eigenschaften zählen.

Bevor Gideon die Treppe nach unten ging, blieb er vor Isabellas Zimmer stehen. Sie saß auf dem breiten Sofa und war umgeben von einer Stadt aus Holzklötzen, in der angemalte Eisenmänner und -frauen, -pferde und -hunde ihrem Tagwerk nachgingen. Zwei der Figuren schienen sich zu unterhalten. Isabella bewegte sie hin und her, während sich ihr eigenes Gesicht vor Emotionen verzog. Sie war in einen Dialog vertieft, den nur sie hören konnte.

Er betrat den Raum und hockte sich vor sie, peinlich genau darauf bedacht, dass er keinen der Holzklötze umstieß. Sie sah ihn an, wobei der Ansatz eines Lächelns ihre Lippen umspielte. Sein Herz zog sich zusammen. Er war dankbar, dass seine Anwesenheit sie immer noch glücklich machte, doch froh konnte er erst wieder sein, wenn er wieder die alte Isabella vor sich hätte – lachend und jauchzend. Gott, schenk mir die Weisheit, die richtige Person auszusuchen, um diese schwere Aufgabe zu übernehmen.

„Ich bin auf dem Weg nach unten, um die Damen kennenzulernen, die Mr Bevin mitgebracht hat. Willst du mitkommen?“

Sie zuckte zurück, doch Gideon streckte ihr die Hand entgegen.

„Denk daran, dass ich mich auf deine Hilfe verlasse, um die beste Kandidatin zu finden.“

Sie legte ihre Finger vorsichtig auf seine Handfläche und er half ihr auf die Beine. Sie nutzte seinen Arm als Stütze, als sie vorsichtig über die Mauern des Dorfes um sie herum kletterte. Als sie die Tür fast erreicht hatten, riss sie sich plötzlich los und schoss auf ihr Bett zu, wo sie sich eine Puppe schnappte und sie fest an sich presste. Die Puppe war ein Geschenk ihrer Mutter gewesen und Isabella liebte sie heiß und innig, deshalb hatte Gideon auch nichts dagegen, dass sie sie mit hinunternahm.

„Bereit?“, fragte er, als sie zurück an seine Seite gekommen war.

Sie nickte. Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Die Tür zur Empfangshalle stand offen. Ohne stehen zu bleiben, führte Gideon seine Tochter hinein. Er befürchtete, dass jedes Zögern seinerseits sich negativ auf das Mädchen an seiner Seite auswirken könnte. Wenn man Schafe trieb, war es auch am besten, energisch voranzugehen und erst aufzuhören, wenn sich alle sicher im Gatter befanden. Ansonsten riskierte man ungeahnte Schwierigkeiten.

„Westcott! Endlich bist du da.“ James Bevin trat mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf ihn zu. „Diese Damen waren lang genug meinen minderwertigen Kommunikationsversuchen ausgesetzt, alter Junge. Ich fürchte, sie sind meiner Gesellschaft überdrüssig.“

„Aber ich bitte Sie, Mr Bevin.“ Eine anmutige blonde Frau erhob sich vom Sofa und schwebte auf ihn zu. „Sie waren ein wunderbarer Gesellschafter.“

„Gideon Westcott, darf ich Ihnen Miss Lillian Oliver vorstellen?“

„Miss Oliver.“ Gideon deutete eine Verbeugung an, die sie mit einem eleganten Knicks erwiderte, der in jedes englische Wohnzimmer gepasst hätte. Auch die anderen beiden Ladys waren aufgestanden und warteten darauf, von ihm begrüßt zu werden. Eine von ihnen hatte silbrige Strähnen im Haar und sah sehr ernst aus, die andere war die kleine junge Frau mit der wunderbaren Röte auf den Wangen. Die ältere trat als Erste einen Schritt nach vorne.

„Mrs Esther Carmichael“, verkündete Bevin.

Gideon deutete wieder pflichtbewusst eine Verbeugung an und konnte nicht umhin, den seltsamen Geruch zu bemerken, der von der älteren Dame ausging. Er erinnerte ihn an eine seiner eigenen Hauslehrerinnen von früher. Sie hatte ihre Gelenke immer mit Franzbranntwein eingerieben und es gar nicht gemocht, wenn sie draußen hinter ihm und seinen Brüdern herlaufen musste. War Mrs Carmichael genauso?

Zum Schluss trat die brünette junge Dame in dem gelben Baumwollkleid vor ihn. Bevin öffnete gerade seinen Mund, um sie vorzustellen, doch sie kam ihm zuvor.

„Mr Westcott und ich haben uns schon kurz im Stall getroffen.“

Bevin hob die Augenbrauen. „Ach?“

Gideon nickte zur Bestätigung. „Das stimmt. Aber ich fürchte, sie ging, bevor ich ihren Namen in Erfahrung bringen konnte.“

Die Farbe ihrer Wangen vertiefte sich von einem leichten Rosa zu einem Scharlachrot.

„Nun denn“, fuhr Bevin fort. „Lass mich dir Miss Adelaide Proctor vorstellen.“

Die selbstbewusste Miss Proctor deutete einen Knicks an und streckte ihm dann ihre Hand entgegen, bevor er seine Verbeugung vollenden konnte. Sie bot ihm nicht ihren Handrücken zum Küssen an. Nein, sie reichte ihm die Hand ausgestreckt mit dem Daumen nach oben zu einem Händeschütteln, das er bisher nur mit anderen Männern ausgetauscht hatte. Da er sie nicht vor den Kopf stoßen wollte, ergriff er ihre Hand und war überrascht über die Kraft, die er spürte. Und als er ihr in die Augen sah, hatte er das Gefühl, genaustens gemustert zu werden. Aus einem seltsamen Grund hatte er die Hoffnung, dass er ihrer Überprüfung standhalten würde.

Nach einem kurzen Augenblick ließ sie seine Hand wieder los und trat einen Schritt zurück, wobei ihr Blick an ihm vorbeiwanderte.

„Guten Tag.“ Ein warmes Lächeln trat auf ihr Gesicht.

Sein Verstand kam wieder in Schwung. Isabella.

Er räusperte sich. „Ladys? Darf ich Ihnen meine Tochter Isabella vorstellen?“

Gideon legte seine Hand auf den Rücken des Mädchens und schob sie sanft nach vorne. Widerstrebend ließ sie es geschehen und hielt ihre Puppe noch fester an sich gepresst. Aber schließlich trat sie vor, um die drei Damen anzuschauen.

„Mach einen Knicks, Mädchen.“ Mrs Carmichael sprach mit Autorität, jedoch nicht unfreundlich. Bella beeilte sich, ihr zu gehorchen. Die ältere Dame nickte anerkennend und sah Gideon zufrieden an, nachdem sie ihre Professionalität unter Beweis gestellt hatte.

„Sie ist ein liebes Kind, Mr Westcott. Eine wahre Schönheit. Sie müssen sehr stolz sein.“ Miss Oliver lächelte ihn an wie eine Debütantin. Fast rechnete er damit, dass sie anfing, mit den Wimpern zu klimpern. Es gefiel ihm nicht, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete und nicht mit Isabella sprach, doch er schob dieses Gefühl beiseite, da ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Er war stolz auf seine Tochter.

„Danke.“ Gideon legte seine Hand auf Isabellas Schulter und drückte sie aufmunternd. „Sie ist der Sonnenschein meines Lebens.“

Ein leiser Seufzer zog seine Aufmerksamkeit auf Miss Proctor. Ihre Augen funkelten mit einer Intensität, dass er das Gefühl hatte, in ihre Seele blicken zu können. Doch dann wurde das Strahlen von einem feuchten Film überzogen, den er am liebsten sofort weggewischt hätte. Sie blinzelte die Tränen weg und ging in die Knie, um mit Isabella auf Augenhöhe zu sein.

„Hast du das gehört?“ Sie sprach so vertraut mit dem Kind, als befänden sie sich völlig allein in dem Raum. „Du bist der Sonnenschein im Leben deines Vaters. Das ist eins der größten Komplimente, die man überhaupt bekommen kann. Mein Vater hat einmal so etwas Ähnliches zu mir gesagt. Und er hat mir verraten, dass Gelb seine Lieblingsfarbe ist und dass immer, wenn ich ein gelbes Kleid trage, für ihn die Sonne noch stärker scheint. Egal ob draußen oder drinnen. Und weißt du was?“

Isabella schüttelte langsam den Kopf, aber sie schien völlig gefangen genommen zu sein von dieser Frau. Gideon selbst erging es nicht anders. Er hing an ihren Lippen.

„Jetzt, wo mein Vater gestorben ist“, fuhr sie fort, „trage ich, so oft es geht, Gelb. Es erinnert mich an ihn und macht mich glücklich. Ich stelle mir vor, dass er mich vom Himmel aus beobachtet und sich über mich freut. Und mir ein Lächeln schenkt.“

Isabella lockerte den Griff um ihre Puppe und streckte ihre kleine Hand aus, um Miss Proctors Wange zu streicheln. Die junge Frau bedeckte die kleinen Finger mit ihren eigenen und lehnte sich in die Berührung hinein. Gideon starrte sie an, seine Augen brannten. All diese Monate hatte er versucht, Bella zu trösten. Und diese Frau schaffte es in den ersten Minuten mit einer einfachen Geschichte, das Herz seiner Tochter anzurühren. Sie schienen verbunden durch den Verlust eines Elternteiles. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm Bella Kontakt zu einem anderen Menschen auf, anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Gott hatte ihm nach all dieser Zeit ein Wunder gesandt. Ein Wunder, verpackt in gelben Baumwollstoff.

* * *

Am späten Abend saß Gideon allein in seinem Büro. Er hatte jedes Empfehlungsschreiben gelesen, alle Zeugnisse genau angeschaut und die Kandidatinnen auf einer imaginären Skala gegeneinander abgewogen. Miss Proctor hatte nicht die Erfahrung wie Mrs Carmichael vorzuweisen oder die sozialen Kompetenzen wie Miss Oliver, aber was sie hatte, glich alle anderen Faktoren aus – Isabellas Zustimmung.

Doch trotzdem wäre es verantwortungslos gewesen, einem fünfjährigen Kind alleine diese wichtige Entscheidung zu überlassen. Alles, was Isabella wusste, war, dass Miss Proctor und sie eine ähnliche Trauer teilten. Sie verstand nichts von den Qualifikationen, die eine Hauslehrerin vorweisen musste. Das war seine Aufgabe.

Er war nach Texas gegangen, um seinem Vater zu beweisen, dass er selbst Verantwortung übernehmen und ein eigenes Unternehmen aufbauen konnte. Er hatte nicht länger abhängig vom Geld seines Vaters sein wollen, sondern sich selbst etwas erarbeiten wollen. Keine langweiligen Empfänge mehr, keine bedeutungslosen Flirts und kein Leben wie im Rausch. Er konnte doch seine neugewonnene Reife nicht einfach ignorieren, indem er eine so wichtige Entscheidung einem kleinen Mädchen überließ. Oder etwa doch?

Gideon schloss die Augen und rieb seine Stirn, weil er hoffte, dass der Druck in seinem Kopf verschwinden würde. Da erklang ein Klopfen an der Tür. Gideon ließ seinen Arm fallen und hob den Blick von den Papieren, die er vor sich ausgebreitet hatte.

„Herein.“

James Bevin betrat den Raum und schloss leise die Tür hinter sich. „Gibt es etwas, das ich dir über die Damen erzählen soll, damit dir deine Entscheidung leichter fällt? Zum Beispiel … dass Miss Oliver Angst hat, wenn sie sich nicht in einem Haus befindet, weil sie befürchtet, von Indianern angegriffen zu werden? Oder dass Mrs Carmichael ihren Ehemann mit Sicherheit durch ihre spitze Zunge ins Grab gebracht hat?“

Er schlenderte durch den Raum und blieb dann vor dem Schreibtisch stehen, um sich ein Dokument zu nehmen und es zu studieren. „Oder vielleicht möchtest du lieber wissen, dass Miss Proctor besser reiten kann als die meisten Männer, dass sie einen beeindruckenden Verstand hat und tagelang reisen kann, ohne sich auch nur im Mindesten zu beklagen?“

„Spüre ich da einen Hauch Voreingenommenheit, James?“ Gideon grinste seinen Freund an.

„Komm schon, Gid. Du wärst ein Narr, wenn du Miss Proctor nicht anstellen würdest und das weißt du auch. Sag mir, dass ich unrecht habe.“

Gideon stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich das Kinn. „Wenn man ihre Erfahrung betrachtet, würde ich sie nie in die engere Wahl nehmen. Um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass du es getan hast.“

„Sie hat sich in letzter Minute gemeldet.“

„Ah.“ Gideon lehnte sich in seinem Sessel zurück. Das Leder knirschte, als er sein Gewicht verlagerte. „Ich hatte mich schon gefragt, warum du drei Kandidatinnen mitbringst, wo wir uns doch darauf geeinigt hatten, dass du die besten zwei auswählst.“

James zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Gideon gegenüber. Er streckte seine langen Beine aus. „Gid, ich sage dir, es war, als hätte eine göttliche Fügung sie vor meiner Tür abgestellt. Wir hatten diese Anzeige zwei Wochen lang geschaltet und ich habe mehr als ein Dutzend Bewerberinnen aussortiert, um die beiden erfahrensten ausfindig zu machen, wie wir es abgesprochen hatten. Ich hatte sogar schon die Zugtickets reserviert. Wir waren so gut wie auf dem Weg zu dir. Dann stand plötzlich Miss Proctor in meinem Büro, stutzte Mr Lyons gekonnt zurecht und wickelte mich im Nullkommanichts um den kleinen Finger. Ich kann nicht erklären, wie das vonstattengegangen ist, aber irgendwie wusste ich vom ersten Augenblick an, dass sie genau die Richtige für den Job ist.“

Gideon wusste nicht, was er erwidern sollte. Nachdem er gesehen hatte, wie Miss Proctor mit Isabella umgegangen war, konnte er nicht leugnen, dass sie eine ganz besondere Gabe hatte. Sein Gefühl stimmte all dem zu, was James vorgebracht hatte. Aber konnte er seinen Instinkten vertrauen? Er war noch nie Vater gewesen und wusste nicht, was das Beste für ein kleines Mädchen wie Isabella war. Wäre es nicht klüger, die Gefühle aus dem Spiel zu lassen und eine vernunftbestimmte rationale Entscheidung aufgrund der Fakten zu treffen?

Er lehnte sich wieder nach vorne und blätterte in den Dokumenten auf dem Tisch, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Hier steht, dass sie bis vor einem Monat in einer Schule in Cisco unterreichtet hat. Wie hat sie überhaupt von der Stelle hier erfahren?“

„Fügung, vermute ich“, antwortete James. „Sie war erst einen Tag in der Stadt, anscheinend wegen einer … Privatangelegenheit, als sie eine alte Gazette fand. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt auf das Datum geachtet hat.“

James’ Andeutung über die Privatangelegenheit entging Gideons Aufmerksamkeit nicht. Er musterte seinen Freund. Er war einer der wenigen Menschen, denen Gideon uneingeschränkt vertraute. Er hätte ihm Miss Proctor nicht empfohlen, wenn es irgendetwas Skandalöses über sie zu berichten gäbe. Doch seine Neugierde war geweckt. Wovor lief eine solche Frau davon?

„Du solltest sie anstellen.“ James’ Gesicht hatte jegliche Spur von Belustigung verloren. „Vertrau deinem Gefühl. Ach was, vertrau meinem Gefühl. Wenn sie sich als ungeeignet herausstellt, kannst du es mir in die Schuhe schieben.“ Schon schien ihm der Schalk wieder im Nacken zu sitzen. „Natürlich will ich auch deinen unendlichen Dank, wenn sie deine Erwartungen übertreffen sollte.“

Gideon schüttelte ergeben seinen Kopf. „Nun, ich habe Isabella sowieso gesagt, dass sie ein Mitspracherecht hat. Und da auch du für Miss Proctor bist, bin ich doch längst überstimmt.“

„Du wolltest doch nicht wirklich eine von den anderen beiden nehmen?“

„Die Wahrheit ist, dass ich beim besten Willen nicht wusste, was ich tun sollte.“ Gideon ließ die Hände sinken. „Gut. Ich gebe ihr eine Chance. Aber halte Mrs Carmichael und Miss Oliver bei der Stange. Vielleicht brauche ich sie noch, wenn Miss Proctor versagt.“

Gideon sammelte die Unterlagen zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Nachdem er sie beiseitegelegt hatte, wandte er sich wieder James zu. „Und jetzt zu einer anderen Angelegenheit. Hat sich die Sache erledigt?“

James zog ein Bündel Papiere aus der Tasche und warf es auf den Schreibtisch. „Ja, endlich. Das Gericht hat zu unseren Gunsten entschieden. Isabella darf bei dir bleiben.“

„Gott sei Dank.“ Gideon hatte an diesem Ausgang nicht gezweifelt. Er wusste, dass sie im Recht waren und legal gesehen auf sicherem Grund standen. Trotzdem war er jetzt mehr als erleichtert, die offizielle Bestätigung zu erhalten. „Und was ist mit deinen Nachforschungen?“

„Dein Mann in London hat mit seinen Informationen über Lord Petchey so viel Schmutz aufgewirbelt, dass ich das Gefühl hatte, erst einmal ein langes Bad nehmen zu müssen. Der Schuft ist bis über beide Ohren verschuldet, spielt in den heruntergekommensten Klubs, treibt sich in Bordellen herum und hat sogar sein Pferd zu Tode geritten, um bei einer Wette zu gewinnen.“ James schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich habe mich immer gefragt, warum Lady Petchey dich als Vormund von Isabella eingesetzt hat, wo die Kleine doch noch Verwandte in England hat, aber jetzt verstehe ich sie. Ihr Ehemann, der verstorbene Viscount, hatte seinen Bruder sogar aus dem Testament streichen lassen, soweit es ging. Reginald hat nur seinen Pflichtteil geerbt, mit dem er allerdings gut über die Runden gekommen wäre, hätte er seinen Lebensstil geändert. Was er natürlich nicht getan hat. Lady Petchey hat den Rest des Vermögens verwaltet. Mit Sicherheit hat Reginald erwartet, nach ihrem Tod das gesamte Vermögen zu erhalten. Es muss ein Schock für ihn gewesen sein, als er erfahren hat, dass sie alles in einen Treuhandfonds für Isabella gegeben hat und dich als ihren gesetzlichen Vormund eingesetzt hat. Das Testament anzufechten, war seine einzige Möglichkeit.“

Gideon erinnerte sich noch einmal an die letzten Stunden, die er mit Bellas Mutter an Bord des Schiffes verbracht hatte. Lucinda Petchey hatte darauf bestanden, dass er den Kapitän als Zeugen zu ihrem Gespräch hinzuholte. Der Schiffsarzt war überzeugt davon gewesen, dass sie sterben würde, also hatte Gideon ihrem Willen unverzüglich entsprochen. Am Ende war sie lange genug am Leben geblieben, um ihr Testament vor Zeugen offiziell zu unterschreiben und dem Kapitän die Anweisung zu geben, es an ihren Anwalt in London weiterzureichen. Als alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war und sie ihre Tochter noch einmal umarmt hatte, war sie der Krankheit erlegen, die sie innerhalb weniger Wochen aufgezehrt hatte.

Mit zitternder Hand fuhr Gideon sich durch die Haare. „Ich wusste, dass Lucinda sich um Isabellas Zukunft sorgte. Ich wage mir kaum vorzustellen, was für ein Leben das Mädchen gehabt hätte, wenn sie bei ihrem Onkel hätte bleiben müssen. Der Kerl hätte sie bei erstbester Gelegenheit mit Sicherheit an den Meistbietenden verhökert. Es macht mich rasend, wenn ich daran denke.“ Gideon atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen.

„Zum Glück war Lady Petchey klug genug, Kapitän Harris als Zeugen zu verpflichten.“ Auch James’ Gesichtsausdruck war wütend geworden. „Seine Zeugenaussage über ihren klaren Geisteszustand bei der Formulierung des Testamentes zusammen mit der Einschätzung des Schiffsarztes hat den Richter überzeugt. Petchey hatte sie als geistig verwirrt dargestellt. Eine verrückte Frau, die völlig ohne Grund vor ihrer Familie flieht. Er hätte das Gericht fast davon überzeugt, dass eine zurechnungsfähige Mutter ihr Kind niemals einem Fremden übergeben würde. Wenn es ihre Aussagen nicht gegeben hätte, hättest du Isabella wahrscheinlich nach England schicken müssen.“

„Gott behüte.“

Zum ersten Mal, seit Gideon sich sein Leben in Texas aufgebaut hatte, war er froh darüber, dass mehrere Tausend Meilen zwischen ihm und seiner alten Heimat lagen. Die Distanz mochte ihn zwar von allem abschneiden, was er kannte und liebte, aber sie bewahrte Isabella auch vor dem Zugriff ihres Onkels. Und das war jedes Opfer wert.

Sturz ins Glück
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